Earth 3.0 vierter Teil

Lies zum besseren Verständnis zuerst die Teile 1, 2 und 3!

Earth 3.0, vierter Teil

 

RW00 beschloss das nächste Treffen abzusagen. Er ging hinaus auf den Flur um sich die Beine zu vertreten und um nachzudenken. So wie sein Bruder, der Energie-Inspektor JW00, plötzlich aufgetaucht war, so war er wieder verschwunden, nicht mal sein Vitaminwasser hatte er ausgetrunken. So eilig hatte er es sonst nie!

Aber was hatte er denn bis jetzt wirklich herausgefunden? Seine Einleitung, „dass jetzt alles aufgeflogen sei“, war eine Provokation, ein billiger Bullentrick, auf den er natürlich nicht hereingefallen war.

Die andere Seite war, dass die Annahme, durch eine kurzfristige Überproduktion in der Tretmühle das anschließende Anzapfen der Energietanks ausgleichen zu können, wohl falsch war. Irgendein Fehler musste in den Berechnungen sein, oder die Gruppe hatte eine undichte Stelle? Nein, undenkbar, RW00 würde für jeden und jede die Hand ins Feuer legen.
Allerdings wurde es höchste Zeit, dass der geheime Energietank endlich an die Tretmühle angeschlossen würde. Wenn alle aus der Gruppe dann nur ein bisschen über das Pflichtsoll hinaus strampeln würden, dann hätten sie immer genug Energie für die nächste Session zur Verfügung.

 

Die Ökodekade II hatte den Umgang der Menschen mit Energie völlig neu definiert. Die Verwendung war in strengen Gesetzen geregelt. So hatte die Energienutzung, die zum Erhalt der Gemeinschaft notwendig war, absoluten Vorrang vor dem individuellen Bedarf, der wiederum in zwei mögliche Kontingente aufgeteilt war und zwar „lebensnotwendig“ und „notwendig“. In beiden standen jedem Bewohner die gleiche Menge zu. Dazu kamen zahlreiche Energiesparmaßnahmen, wie zum Beispiel die Abschaltung aller Quellen in den Ruhephasen. Wer Energie in einem Kontingent sparte, konnte damit das andere Kontingent in gewissem Umfang erhöhen. Der Energieverbrauch war so auf ein Bruchteil des Umfangs geschrumpft, der in der Vorzeit verschwendet worden war.

 

Nachdem JW00 den Besuch bei seinem Bruder abgebrochen hatte, war er schnurstracks nach Hause geradelt. Er hatte nur wenig geschlafen und war schon lange vor Schichtbeginn wieder in der Energiezentrale aufgetaucht.

Er würde als erstes ein Techniker-Team in den Sektor 3212 schicken, die den Laden dort umkrempeln würden. Wenn es eine Manipulation am System gäbe, dann würden sie das bestimmt entdecken und sofort melden und dann würde sich JW00 auf die Lauer legen. In der Zwischenzeit konnte er ja die Datenbank nach interessanten Informationen über seinen Bruder befragen.

Dieser hatte zu Beginn der Ökodekade I, unter großen Anpassungsschwierigkeiten gelitten. Immer wieder hatte er öffentliche „individuelle Freiheit“ gefordert und war als „nicht in die Gemeinschaft passend“ eingestuft worden. JW00 hatte seine ganzen Beziehungen einsetzen müssen, um ihn vor dem Straflager zu bewahren. Seit JW00 ihm damals seine Lage deutlich gemacht hatte, war er allerdings unauffällig geblieben. Keine weiteren Einträge, weder positive noch negative.

Im Display wurde die Meldung des Technikteams eingeblendet, dass die Ladung der Energietanks wieder stabil und im Normbereich seien. Ein technisches Problem läge also nicht vor. Deshalb schlagen sie vor, die Nachforschungen zu beenden und im Bericht den Fall dem jährlich etwa einen Prozent von ungeklärten aber unproblematischen Schwankungen zuzuordnen.

 

JW00 hatte nun die Möglichkeit zu widersprechen, hätte dann aber seine bisherigen Ermittlungsergebnisse in einem Bericht zusammenfassen müssen. Ermittlungsergebnisse, an die er durch den illegalen Einsatz seines Universaldekoders gekommen war. Kurz entschlossen bestätigte er die Einstellung des Falles ohne besonderes Ergebnis. Seine Ermittlungen gingen nun in die inoffizielle Phase.

 

Er ließ drei Tage verstreichen, ohne im Sektor 3212 aufzutauchen. Auch bei seinem Bruder meldete er sich nicht. Dann begann er täglich die Schaltzentrale der Wohnanlage aufzusuchen um dort die Daten systematisch auszuwerten.

In den Wochen vor der Warnmeldung waren immer die gleichen Abläufe festzustellen. Die Bewohner der oberen Stockwerke suchten vormittags und abends gemeinsam die Tretmühlen auf. Dort erledigten sie ihr Pensum und gingen zurück in ihre Waben. Das ging so bis zu dem Tag an dem die Alarm ausgelöst worden war und JW00 seine Bruder besucht hatte. Seither hatte sich das merkwürdige Schwarmverhalten gründlich verändert. In Grüppchen vermischten sie sich mit den anderen Bewohner der Anlage und besuchten die Tretmühlen zu unterschiedlichen Zeiten. Eine Regelmäßigkeit war nicht zu erkennen.

Nach drei Wochen war das immer noch so und JW00 war drauf und dran seine Schnüffelei zu beenden und seinen Verdacht selbst als Hirngespinst abzuhaken.

Schließlich konnte er nicht bis zu seinem Lebensende einen großen Teil seiner Freizeit im Schaltraum einer Wohnanlage im Sektor 3212 verbringen.
Doch seine Geduld wurde belohnt. Genau dreieinhalb Wochen nach seinem Besuch, hatte sich der Schwarm scheinbar wieder irgendwo versammelt, denn sie hatten alle gemeinsam ihre Waben verlassen und kamen mehr als zwei Stunden später fast zeitgleich zurück. Allerdings gab es davor keine gemeinsame Besuche in den Tretmühlen und keinerlei energetische Schwankungen und schon gar keinen Alarm mehr.

An den folgenden Tagen war das Verhalten dann wieder normal. Doch JW00 war sich seiner Sache sicher und er beschloss, dass er da sein würde, wenn der Schwarm wieder ausfliegen würde.

 

Dies geschah allerdings erst nach weiteren zwei langen Wochen in denen er beinahe schon im Schaltraum eingezogen war. Meist verbrachte er seine Zeit dort lesend oder dösend oder er betrachtete die Isolierung, die sich an mehreren Stellen langsam von den Wänden löste und den Boden mit Staub bedeckte. Ein paar der seltsamen Leitungen, die von allen Seiten den Raum durchzogen, schienen erst kürzlich angebracht worden zu sein – das war aber nichts, über das er nachdenken sollte.

 

..

Es war für ihn eine leichte Übung den Schwarm im Treppenhaus zu orten, nachdem das System das Verlassen der Wohnwaben angezeigt hatte. Die Gruppe ging zielstrebig den Weg, den alle Bewohner am häufigsten gehen mussten, nämlich hinab in die Katakomben, wo sich die Tretmühlen befanden. Als die Gruppe an der Tür des Schaltzentrums vorbei gezogen war, hinter der sich JW00 verbarg, wartete er ein paar Sekunden und heftete sich dann an ihre Fersen. Vor dem Gang zu Tretmühle schien es eine Abzweigung zu geben, denn er konnte gerade noch einen Mann und zwei Frauen um die Ecke biegen sehen. Er huschte hinterher, doch an der Ecke angekommen war die Gruppe, wie vom Erdboden verschluckt.

Er blieb stehen und lauschte. Nichts, absolut nichts war zu hören. Doch es gab hier zwei Gänge, der eine, war der, der früher zur Restesammelstelle geführt hatte. Jetzt war er zugemauert, denn durch die vielen Verwertungssysteme gab es so gut wie keinen Abfall mehr und die Sammelstelle wurde nicht mehr gebraucht. Alles konnte heute wiederverwendet oder direkt in den Waben energiegewandelt werden. JW00 folgte also dem anderen Gang, der zum Lüftungssystem führte.

Dort roch es zwar fürchterlich aber fast 50 Menschen waren vor seinen Augen verschwunden und er konnte sich nicht erklären wohin. Also ertrug er den Gestank und begann, leicht wütend auf sich selbst, weil er die Gruppe verloren hatte, die Wände abzutasten. Irgendwo musste ein geheimer Zugang sein, zu irgendwas, denn in Luft hatten sie sich bestimmt nicht aufgelöst.

Nach etlichen vergeblichen Versuchen eine geheime Tür zu entdecken, ließ er sich auf den Boden sinken. Er würde wohl warten müssen, bis die Vögel wieder in ihre Nester zurückkehren würden. Er würde ihnen dann seinen Dienstausweis vor die Nasen halten und dann würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als mit der Wahrheit raus zu rücken.

Er fischte ein Reinigungstuch aus seiner Hose und begann seine Nickelbrille zu putzen. Gedanklich stellte er sich bereits auf weitere zwei Stunden des Wartens ein, als er ein rhythmisches Vibrieren des Bodens zu bemerken glaubte. Nein, nicht nur der Boden vibrierte, auch an den Wänden war es deutlich zu spüren. Er stellte seinen Atem ein, spürte und lauschte. Zu der Vibration passend hörte er nun ein ganz leises tiefes Klopfgeräusch. Es schien aus dem Gang zu kommen, der zur ehemaligen Restesammelstelle führte.

Na klar, dort musste also die geheime Tür sein, durch die alle verschwunden waren.

Nun ging alles sehr schnell. JW00 hetzte bis ans Ende. Hier war der pulsierende Rhythmus noch deutlicher zu hören, begleitet von weiteren Geräuschen.

Der Mechanismus der Drehtür, die an Stelle der Mauer eingesetzt worden war, ließ sich leicht mit dem Universaldekoder bedienen und JW00 schlüpfte hindurch.

Nun folgte JW00 einfach dem lauter werdenden Sound und nach zwei weiteren Abzweigungen stand er in der ehemaligen Sammelstelle. Hier war er an der Quelle des Lärms angelangt, die eindeutig ursächlich mit seinem Bruder zusammenhing.

 

Der stand nämlich auf einem kleinen, spärlich beleuchteten, Podest und hämmerte auf die Saiten einer Elektrogitarre ein. Leider war er nicht allein, JW00 sah eine komplette Rockband vor sich. Zwei weitere Typen traktierten Bass und Schlagzeug, was wohl hauptsächlich für die Vibrationen verantwortlich waren. Zwei Frauen gehörten ebenfalls zu Besetzung der hier agierenden illegalen Rockband. Eine bediente das Keyboard und die andere schrie mit heiserer Stimme etwas in ein Mikrophon.

Die anderen Schwarmmitglieder waren vor dem Bühnenpodest versammelt. Manche führten eine Art stampfenden Tanzes auf, der wohl aus der Vorzeit stammen musste, so archaisch wirkte die Szene auf JW00.

Das Schlimmste was er sich ansehen musste, waren jedoch die Verstärker: Ein ausgewachsenes Gitarrenstack, bestehend aus Topteil und Lautsprecherbox, ein weiteres Stack für den Bass. Rechts und links der Bühne waren zusätzliche Lautsprecher aufgetürmt, angetrieben durch diverse Energie saugende Verstärker. Daneben stand ein Verteiler, von dem eine Leitung zu einer Art selbst gebastelter Brennstoffzelle im hinteren Teil des Raumes führte.

JW00 addierte die Liste der sich darbietenden Vergehen in Gedanken auf und blickte hinüber zu seinem Bruder, auf den wohl lebenslanges Straflager warten würde.

Unbeeindruckt davon setzte dieser zu einem brachialen Gitarrensolo an, das die versammelten Fans zum Toben brachte. Dabei stand er still wie eine Statue mit völlig entrücktem Blick nach Nirgendwo. Als das Solo nach mehreren Minuten mit einem lang gezogenen Ton endete, nahm die Sängerin diesen auf und ließ ihn fließend in den Refrain des Songs übergehen:

„ Rock`n Roll will never…
Rock`n Roll will never…
Rock`n Roll will never…
Rock`n Roll will never – die!“

 

 

 

Ende

 

Ein paar der seltsamen Leitungen schienen erst kürzlich angebracht worden zu sein – das war aber nichts, über das er nachdenken sollte.