Earth 3.1 „Die andere Seite“ – Teil 1

Zum besseren Verständnis dieser Geschichte kann es beitragen, wenn du Teil eins bis vier von Earth 3.0 gelesen hast – zu finden unter Kategorien „Renaldos Welt“

Das menschliche Abenteuer beruht zur Gänze auf der Ehrfurcht vor der Erde, auf ihrer Verehrung und der Freude an ihr sowie an allem, was lebt und aus der Erde hervor wächst. Sobald wir uns von den Lebensvorgängen und der tiefen, geerdeten Stimmung, die sie uns vermitteln, abtrennen, sind die wesentlichen Grundlagen unserer Zufriedenheit mit dem Leben geschwächt. Keines unserer von Maschinen gefertigten Produkte, kein computergeneriertes Erzeugnis kann jene völlige Zustimmung zum Leben aus den Tiefen unseres Unterbewusstseins hervorbringen, die wir brauchen, um die Erde zu erhalten und uns selbst, sowie die integrale Erdgemeinschaft in die gefahrvolle Zukunft zu führen.“
(Thomas Berry, Kapitel 15 „Die Wege der Zukunft“)

Die Energieinspektorin AL00 seufzte tief und schloss den Schirm. Ihre tägliche Lektüre der Schriften des großen Thomas Berry gab ihr, wie immer, dieses wunderbare Gefühl Teil eines großen Ganzen zu sein – Teil der Gemeinschaft der überlebenden Menschen in der Ökodekade 02, die den vermeintlichen Fortschritt der Staaten der Vorgeschichte, also den konsequenten Raubbau aller Ressourcen und die Zerstörung der Natur, endlich hinter sich gelassen hatte.

Allerdings war es jetzt an der Zeit sich auf den Weg in die Arbeit zu machen. Sie rannte die Treppen von ihrer Wohnwabe im 13. Stockwerk der dritten unterirdischen Ebene herunter bis auf den „Driveway“ und griff nach einem der bereitstehenden Fahrräder. Wie die meisten Menschen war sie blass vom Mangel an Sonnenlicht aber schlank und durchtrainiert, von den zahlreichen Bewegungsübungen des Alltags.

Nach wenigen Kilometern bog sie ab in einen der vielen kleineren Gänge, die das Stadtbild im Osten der Siedlung 3 so eindringlich prägten. Wer sich hier nicht auskannte, war auf die Hilfe der Navis angewiesen, die es mittlerweile an jeder zweiten Ecke gab.
AL00 strich sich eine ihrer widerspenstigen dunklen Locken aus dem Gesicht und stürmte entschlossen durch den Eingang zur Energieaufsichtsbehörde. Sie war ausgeruht und beseelt von dem Willen einen weiteren Tag ihres Lebens gemäß der Lehren Thomas Berrys im Dienste der Gemeinschaft zu verbringen.

 

Als sie am Energiewächter vorbeiging, der die sich ständig aktualisierenden Anzeigen der Screens beobachtete, nuschelte dieser, unfreundlich wie immer, „du sollst zum Chef und zwar sofort“! Ohne, dass er sie auch nur eines Blickes gewürdigt hätte, drückte er weiter auf seinen Knöpfen herum um zwischen verschiedenen Ansichten hin und her zu schalten. AL00 stemmte die Hände in die Hüften und hätte sich beinahe dazu hinreißen lassen ein „Danke für den freundlichen Morgengruß“ an den Rücken des Wächters zu richten, stattdessen stampfte sie unhörbar mit dem Fuß auf und ging weiter in Richtung des Büros des Chefs vom Dienst.

Fünf Minuten später hatte sie einen neuen Auftrag, der ihr absolut nicht gefiel – einerseits. Andererseits – konnte die Sache durchaus interessant werden, wenn sie sich an die Fersen des Eigenbrötlers dieser Schicht heften würde, der, obwohl er stets alleine ermittelte, beeindruckend viele Fälle in rekordverdächtig kurzer Zeit löste.
Außerdem gehörte er zu der sehr kleinen Gruppe von Mitarbeitern der Behörde, die ihr nicht die Aufmerksamkeit schenkte, die ihr von allen anderen Mitarbeitern auf Grund ihres freundlichen Wesens und ihres, wahrscheinlich noch freundlicheren Aussehens, zuteil wurde.

Genau genommen bestand diese Gruppe exakt aus zwei Personen, nämlich dem Wächter, der sie konsequent ignorierte und dem Energie-Inspektor JW00, der sie abwechselnd ignorierte oder damit aufzog, dass sie wohl nur wegen ihres Aussehens Jahrgangsbeste geworden und folglich zu unrecht direkt zur aktiven Energie-Inspektorin befördert worden sei. Das wäre aber sowieso egal, da sie ohne jegliche praktische Erfahrung wohl ohnehin nicht länger als ein paar armselige Monate in der exekutiven Abteilung überleben würde.

 

So wäre es ihr wohl auch ergangen, hätte nicht ausgerechnet besagter JW00 ihr den entscheidenden Tipp gegeben, mit dem es ihr nach wochenlangen vergeblichen Ermittlungen doch noch gelungen war zumindest ihren dritten Fall zu lösen.

 

Ihre Freude bekam damals allerdings einen gehörigen Dämpfer, als sie sich mit einem kleinen Geschenk und ihrem bezaubernden Lächeln bei ihm bedanken wollte. Er hatte nur mit der Schulter gezuckt und während er sich an ihr vorbei schob irgend etwas gemurmelt, das so ähnlich geklungen hatte wie: „Kann sein, dass ich einen Fehler gemacht habe.“

 

Seither war sie ihm lieber aus dem Weg gegangen, so wie es alle anderen auch taten. Allerdings beteiligte sie sich nicht an dem Getuschel über ihn, das hinter seinem Rücken stattfand – sollte er doch machen was er wollte, so lange er sie dabei nur in Ruhe ließ.

 

Sie setzte sich an einen freien Schirm und loggte sich ein um ihren Auftrag zu erfüllen. Wenn sich der Verdacht des Chefs bestätigen würde, dass JW00 unsauber war, dann würde sie ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, abservieren. Wer der Gemeinschaft nicht diente, musste gemeldet werden, damit er an einem Umerziehungsprogramm, im schlimmsten Fall an der Oberfläche, teilnehmen konnte und so zu einem wertvollen Teil der Gemeinschaft gewandelt würde.

Sie rief den Dienstplan und die aktuellen Berichte von JW00 auf. Sie war nicht überrascht, dass sie nichts fand, denn er war bekannt dafür, seine Fälle so schnell zu lösen, dass er keine Zwischenberichte schreiben musste.

Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als den Energiewächter zu fragen, an welchem Fall JW00 gerade arbeitete. Wie unangenehm!
Als sie in den Überwachungsraum kam, war der Wächter allerdings gar nicht da – was für eine wunderbare Gelegenheit! Er hatte das Interface nicht mal deaktiviert und so konnte sie einfach eine Standardsuche starten. Sie sagte: “Zeige alle aktuellen Fälle und wer sie bearbeitet.“

Am Screen erschien blitzschnell eine Liste und sofort hatte sie JW00 entdeckt und den dazugehörigen Fall: „Sektor 3212“.

 

Als der Wächter von der Toilette zurück kam, sah er wie eine sehr bleiche und scheinbar völlig verstörte Energie-Inspektorin AL00 sich vom Schirm abwandte und ohne ein Wort den Raum verließ.

Fortsetzung folgt