Zum besseren Verständnis dieser Geschichte kann es beitragen, wenn du Teil eins bis vier von Earth 3.0 sowie Teil 1 von Earth 3.1 gelesen hast – zu finden unter Kategorien „Renaldos Welt“. Viel Vergnügen!
„Es gibt eine grundlegende Differenz zwischen physischer und psychischer Energie. Physische Energie vermindert sich durch ihren Gebrauch. Wird sie oft in Anspruch genommen, bleiben wir mit lebloser Materie und Abfallprodukten zurück, die oft genug schädlich für den Lebensprozess sind. Im Gegensatz dazu wachsen die psychischen Energien mit ihrer Anwendung und der Zahl derer, die an diesen Handlungen partizipieren. Materielle Dinge vermindern sich, je mehr Menschen sie teilen, während immaterielle Dinge mit der Anzahl der Menschen, die sie besitzen, zunehmen. Wenn ein Nahrungsmittel von vier Menschen geteilt wird, erhält jeder mehr davon, als wenn sich zehn Menschen mit derselben Menge Nahrung beschränken müssen. Verständnis, Freude, spirituelle Einsicht, Musik und Künste werden, wie auch immer im Einzelnen, gesteigert, wenn die Aufmerksamkeit für sie zunimmt, oder wenn sie von einer Person zu einer anderen weitergegeben werden. Ein völlig individuell bleibendes Gefühl entspricht nicht der menschlichen Seinsweise. Gefühle müssen geteilt werden. Durch dieses Teilen wächst ihre Resonanz, und ein erweiterter Horizont menschlicher Erfahrung wird geschaffen.“
(Thomas Berry, „Das Wilde und das Heilige“ 1998 „Kapitel 15 „Die Wege der Zukunft“)
AL00 hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und nur die Worte Thomas Berrys hatten sie, zumindest ein bisschen, getröstet. Woher sollen wir Menschen wissen, was richtig und was falsch ist, was kontraproduktiv für die Gemeinschaft oder was ihr nützt, wenn doch die wahren Worte der Lehre und die Bestimmungen und Gesetze der Ökodekade 2 nicht zusammenpassten – oder zumindest nicht so zusammenpassten, dass sie selbst den Sinn und den Zusammenhang verstehen konnte. Jedes für sich allein gesehen war verständlich und klar, doch schon durch einen einzigen Satz, gesprochen oder geschrieben, relativierte sich schon wieder das Ganze.
Was, zum Energieverschwender nochmal, hatte JW00 im Sektor 3212 zu schaffen und was wollte er dort herausfinden? Aber vielleicht bearbeitete er ja nur einen ganz normalen Einspeisungsrückstand, einen Routinefall also, wie die meisten aller Fälle, und dann musste sie sich überhaupt keine Gedanken machen. Zum Glück gab es nur sehr wenige Menschen, die ihren Beitrag zur Energiegewinnung in den „Tretmühlen“, nicht zuverlässig leisteten und damit zu Fällen für die Energie-Inspektoren wurden.
Sei es drum, heute würde sie JW00 wohl beschatten müssen, wie sonst sollte sie herausfinden was der den ganzen Tag so trieb und ob er sich dabei an die Vorschriften hielt.
JW00 schien keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Er bewegte sich gleichmäßig auf dem Driveway und es war ihr ein Leichtes an ihm dran zu bleiben. Auch blickte er sich kein einziges mal um – er schien nicht auf die Idee zu kommen, dass ihn jemand verfolgen könnte. Es war fast ein bisschen langweilig und ihre Aufmerksamkeit begann schon nach zu lassen, als JW00 plötzlich abbog und in einer Seitenstraße verschwand. AL00 hatte überhaupt nicht mitbekommen wie er sich aus der Führungsschiene ausgeklinkt hatte. Nun musste sie bis zur nächsten Abzweigung warten bevor sie selbst den Driveway verlassen konnte. Mist, warum hatte sie sich nur einlullen lassen, vom billigsten aller Tricks?
JW00 war lange vor dem eigentlichen Ziel von der Hauptroute abgewichen. Doch vielleicht wollte er ja gar nicht zum Sektor 3212? AL00 merkte, dass ihr Kopf voller ungeklärter Fragen und Gefühle war, die sie vom konzentrierten Arbeiten abhielten.
Es war wohl etwas dran an der Regel, die Ermittlung abzugeben, wenn man persönlich in einen Fall involviert war.
Letzteres hing allerdings davon ab in welchem Fall JW00 tatsächlich ermittelte?
„Verdammt“, dachte sie, „jetzt geht das in meinem Kopf schon wieder los“. Sie verließ den Driveway und bewegte sich auf das nächste Navi zu, das sich wie erwartet an der Kreuzung befand. Dort ließ sie sich den kürzesten Weg zum Sektor 3212 auf das Display ihres Fahrrades legen. Sie war willens ihren Fehler wieder auszugleichen. Vorausgesetzt JW00 hatte das gleiche Ziel wie sie, dann hatte sie die Chance vor ihm dort zu sein und ihn zu erwarten.
Die Wohnwabe mit der Bezeichnung 3212 war ihr wohlbekannt. Es gab dort zwei Eingänge – sie verbarg sich im Haupteingang, denn sie hielt es für wahrscheinlich, dass JW00 genau dort auftauchen würde. Käme er aus einem der Gänge dann würde sie ihn rechtzeitig entdecken und könnte sich im Keller verbergen. Den zweiten Eingang zog sie gar nicht in Erwägung, er war als Serviceeingang den Fachleuten vorbehalten.
Viel Zeit zum Nachdenken ließ ihr JW00 nicht. Sie hatte serade ihren Platz bezogen, als er um die Ecke segelte. Er stellte das Rad ab, blickte sich kurz um und verschwand im Tunnel Richtung Serviceeingang. Nun musste sie sich beeilen, AL00 rannte los. Sie wollte auf keinen Fall riskieren ihn nochmal zu verlieren. Vorsichtig blickte sie mit einem halben Auge um die Ecke. JW00 holte gerade einen Dekoder aus der Jacke mit dem er den Service-Eingang öffnete und im Haus verschwand. Wo, zum Energieverschwender nochmal, hatte dieser Kerl einen Dekoder für den Service-Eingang her?
In Situationen wie dieser hatte man als Verfolgerin nur eine Chance: Sie musste die Tür erwischen, bevor sie zufiel, musste durchschlüpfen und dafür sorgen, dass das Schließgeräusch noch rechtzeitig erklang und sie musste darauf hoffen, dass JW00 nicht direkt hinter der Tür im Gang auf sie wartete.
Alle fünf Wünsche gingen in Erfüllung, doch damit war ihr Kontingent erschöpft. Sie sah zwar noch, wie JW00 um die Ecke bog, doch als sie ebendiese Ecke erreichte war der Energie-Inspektor wie vom Erdboden verschluckt.
Sie fluchte innerlich über ihr Ungeschick und verfluchte JW00 weil er so unberechenbar war. Doch gab es nichts, das sie jetzt noch tun konnte.
Zwei Parallelgänge weiter, vorbei an der Tretmühle, in der die Bewohner der Wabe ihre Energieeinspeisung erledigten, befand sich der geheime Zugang zu dem Raum in dem sich ihre geheime Gruppe jetzt und heute traf.
Diese Gruppe war das, was ihr Gewissen ständig auf die Probe stellte. Einerseits illegal – andererseits spürte sie den Geist Thomas Berrys nirgendwo so deutlich als in dieser Gemeinschaft.
Wenn ich schon mal da bin, dann kann ich auch gleich zur Probe gehen, dachte sie sich. Sie musste ohnehin eine Warnung abgeben. Zumindest RW00 sollte darüber informiert sein, dass die Energiebehörde möglicherweise etwas bemerkt hatte und dass einer der gefürchtesteten Inspektoren hier herumschnüffelte.
Fortsetzung folgt!