Earth 3.1 “Die andere Seite” – Teil 3

Zum besseren Verständnis dieser Geschichte kann es beitragen, wenn du Teil eins bis vier von Earth 3.0 sowie Teil 1und 2  von Earth 3.1 gelesen hast – zu finden unter Kategorien “Renaldos Welt”. Viel Vergnügen!

 

Teil 3

Wir finden uns ausgerechnet jetzt in einer ethischen Hilfslosigkeit wieder, wenn wir zu ersten Mal mit dem Äußersten, dem irreversiblen Zusammenbruch des Lebenssystems der Erde, konfrontiert werden. Unsere ethischen Traditionen befassen sich zwar auch mit dem Suizid, dem Homizid und dem Genozid, versagen aber angesichts des drohenden Biozids, der Auslöschung der sehr störanfälligen Lebenssysteme der Erde, sowie vor einem möglichen Geozid, der Vernichtung der Erde selbst.
Wir stehen vor vollkommen neuen Problemen. Um diese vollkommen zu verstehen, müssen wir einsehen, dass sich der Missbrauch unserer wissenschaftlich-technischen Macht letztlich nicht aus der wissenschaftlichen Tradition selbst ergibt, obwohl der Vorwurf sich gewöhnlich allein gegen den Eingriff der empirischen Forschung in den Funktionszusammenhang der Natur richtet. Letztlich gehen die Gefahr und der Missbrauch auf die Defizite der spirituellen und humanistischen Traditionen der westlichen Kulturgeschichte zurück. Diesen Traditionen selbst wohnt der Drang zur Entfremdung des Menschen von der Natur inne. Sowohl unsere religiösen als auch unsere humanistischen Traditionen dienen primär der anthropozentrischen (Selbst-)Erhebung des Menschen.“

(Thomas Berry, „Das Wilde und das Heilige“ 1998 „Kapitel 15 „Die Wege der Zukunft“)

Die Energie-Inspektorin AL00 schloss den Schirm. Diesmal hatte sie die Worte des großen Thomas Berry benutzt um mit seiner tiefen Wahrheit den Tag zu beenden. Ihr war bewusst, dass mit den Folgen des angekündigten Biozids jetzt alle Lebewesen zu kämpfen haben. Das Leben der Verursachergattung Mensch hatte sich ganz besonders drastisch geändert. Im Gegensatz zu vielen anderen Gattungen hatte der Mensch zumindest überlebt. Doch um welchen Preis, das Paradies hatte sich in eine Beinahe-Hölle verwandelt, die die Menschen unter die Erde und unter das Wasser gezwungen hatte. Und war das Leben nicht auch freudlos geworden? Wenn die Geburtenrate ein Indikator dafür ist, dann auf jeden Fall. Da half es auch nicht, dass die Menschheit sich vom rücksichtslosen Zerstörer zum vermeintlichen Bewahrer gewandelt hatte und dabei so verbissen war, dass sie immer wieder über das Ziel hinaus schoss. Der Widerspruch zwischen dem, was sie und alle andern lebten und dem was als die wahre Lehre betrachtet wurde, nagte immer stärker an ihr, je mehr sie die Schriften studierte und je mehr sie…, nein, da wollte sie jetzt auf keinen Fall darüber nachdenken…
Nicht heute, wo sie den größten Teil des Tages damit verbracht hatte einem, zugegebenerweise dubiosen, Kollegen hinterher zu spionieren.

Das hatte jedoch nicht den archaischen Genuss getrübt, den sie empfunden hatte, beim abendlichen Gruppentreffen. Sie konnte die Musik fast noch körperlich spüren, die mit ihrer elektrischen Energie jede Faser ihres Körpers zum Schwingen gebracht hatte und ihr Emotionen und Visionen ermöglichte, die sie vorher schlicht nicht gekannt hatte. Das war doch die Magie, das Wilde und das Heilige, von dem Thomas Berry geschrieben hatte, vielleicht das Letzte, was davon noch übrig war? Was sollte denn daran Schlechtes sein?
Vielleicht war sie doch nicht so gut geeignet für den Job bei der Energiebehörde? Mit diesen Gedanken lag sie lange wach, bevor sie endlich einschlief.

 

Am folgenden Tag war AL00 besonders freundlich gestimmt, obwohl sie deutlich früher aufgestanden war als sonst. Doch nach den schrecklichen Träumen hatte sie beschlossen heute ihr Bestes zu geben, um vielleicht doch die eine oder andere Information heraus zu kitzeln, zuerst aus dem zynischen Energiewächter und später aus dem Hauptobjekt ihres aktuellen Auftrags, dem unnahbaren und eigenbrötlerischen Kollegen, der sie wie Luft behandelte. Sie beschloss ihm zu zeigen, wie dick Luft sein kann, nämlich so dick, dass sie sichtbar würde und undurchdringlich!

 

Daher verbrachte sie ein paar Minuten länger als sonst in der Nasszelle und verpasste ihren unbezwingbaren Locken die Idee einer Form und schminkte sich ihre Augen, um ihnen noch mehr Tiefe und Ausdruck zu geben. Sie warf ihrem Spiegel einen verwegenen, herausfordernden und, wie sie meinte, sinnlichen Blick zu, musste selber darüber lachen und lächelte immer noch, als sie sich auf dem Driveway in das Transportband einhängte.

 

Wenig später betrat sie beschwingt und voller Elan die Energiebehörde durch den Seiteneingang, der für das Personal bestimmt war.
Dort wäre sie beinahe über eine, im Halbdunkel des Eingangs am Boden kauernde Person gestolpert.
Eine wohlbekannte Stimme fuhr sie an: „He, halt und immer schön langsam, sonst trittst du mir noch was kaputt hier.“
Als ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten sah sie JW00, wie er auf Knien die Einzelteile eines Dekoders in Windeseile aufklaubte und in seiner Jacke verschwinden ließ.
Ganz offensichtlich wollte er nicht, dass AL00 sehen konnte was hier vor sich ging, denn er schaute sie nicht mal an, erhob sich und verschwand in Richtung Parkplatz und Driveway.
Die passenden Worte, die ihr sowie nicht eingefallen wären, hinunterschluckend, drehte sie sich, leicht verwirrt aber um eine Erkenntnis reicher, um und stieg die Treppe hinauf.
Das war ganz eindeutig kein Standard-Dekoder gewesen, was sie da am Boden gelegen hatte und das erklärte Einiges. Außerdem hob es den Herrn JW00 und seine Methoden ein bisschen aus dem Bodennebel heraus, mit dem er sich und seine Arbeit so gerne umgab.
Der glaubte doch nicht wirklich, dass sie so blöd sei und nicht wusste, was sie da eben gesehen hatte.

Das Lächeln von vorhin kam zurück in ihr Gesicht und hielt sich dort, als die Schiebetür des Vorraums aufglitt und sie die fünf Schritte in den Kontrollraum zurücklegte.

Es hielt sich immer noch, als sie den Wächter leise schnarchend, in seinem Sessel hängend, antraf. Sie stuppste ihn kurz an und als er nicht reagierte, stuppste sie auch mit dem Zeigefinger auf dem Schirm zuerst das Symbol des Dienstplans an und dann JW00. Doch noch bevor die erste Information am Schirm erschien, hörte sie plötzlich auf zu Lächeln, denn irgendetwas hatte sie ziemlich nachdrücklich am Arm gepackt und zog sie zurück.

Was machst du da schon wieder?“ fragte er mit vom Schlaf rauher Stimme. „Interessierst du dich immer noch für JW00? Hat er dir nicht deutlich genug zu verstehen gegeben, dass du dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern sollst?“
AL00 riss sich verärgert los, bekam sich aber sofort wieder in den Griff und lächelte den Wächter mit großen Augen an.
„Stimmt!“ sagte sie, „es ärgert mich einfach, dass er mich ständig ignoriert, dabei mag ich ihn eigentlich recht gern und ich könnte bestimmt viel von ihm lernen, was diesen Job hier betrifft. Deshalb interessiert es mich auch, was er gerade macht und wie lange er schon mit seinem Fall beschäftigt ist. Für mich wäre es eine tolle Gelegenheit, wenn ich ihm helfen könnte seinen Fall zu lösen. Vielleicht merkt er dann, dass er mich unterschätzt.“ Sie blickte ihn mit großen Augen und trotzigen Lippen an.
„Und warum fragst du mich nicht einfach? Was hier passiert ist doch kein Geheimnis, oder?“

Jetzt war es wieder da, das Lächeln, gewinnender als je zuvor! Wie hatte sie sich nur so täuschen können. Der Energiewächter war scheinbar ein richtig netter Kerl und nach 15 Minuten anregender Unterhaltung, zwar mit einigen weniger ergiebigen Umwegen über die anstrengende und meistens stinklangweilige Aufgabe des Energiewächters, für die er im Übrigen viel zu wenig Anerkennung erhielt, verließ sie die Behörde mit allen gewünschten Informationen im Gepäck und mit einem sehr zufriedenen Dauerlächeln im Gesicht.

Was konnte an so einem Tag noch schief gehen?